So wie es die schönste Unterkunft gibt, muss es auch die Schlechteste geben. Das sie gerade dann auf uns wartete, als wir am dringendsten einen Pausentag benötigten, ist einfach Pech. Seitdem wir unsere Familien am Comersee verabschiedet haben, gönnten wir uns keinen Ruhetag mehr. Das war vor mehr als 21 Tagen.
Somit ist es nicht verwunderlich, dass ich mich die letzten Tage kraftlos und schlapp gefühlt habe. Auf dem Weg nach Talosio entschließen wir uns also dort einen “Zero-day” einzulegen. Als wir durch die leeren Gassen des Ortes schlendern, stellen wir fest, dass sich die Bewohner scheinbar wenig um intakte Bausubstanzen scheren. Auch der Respekt gegenüber Tieren ist einigen hier fremd. Dem streunenden Hund wird dann schon mal mit voller Kraft ins Gesicht getreten…
Lost in Talosio
Ein wenig irritiert treten wir somit durch den dichten Makramee-Vorhang in das Innere des einzigen Restaurants im Dorf. Wie so oft, betreibt die Wirtin nebenbei auch das Posto Tappa für GTA-Wanderer. Wir reservieren direkt für 2 Tage und bestellen 2 große Bier. Während die Getränkebestellung keine Fragen aufwirft, verdreht die Wirtin bei “due notti” die Augen. Als wir eine halbe Stunde später den Schlafsaal in der alten Schule betreten, wissen wir auch warum sie sich gewundert hat, dass hier jemand 2 Nächte verbringen möchte.
Das gesamte Gebäude erweckt den Eindruck, als ob es dieses Jahr noch keinen Besen, Putzlappen oder Staubwedel gesehen hat. Neben fingerdicken Staub- und tote Fliegenschichten, steht auch noch eine halbvolle und offene Weinflasche auf dem Boden. Die Schublade der einzigen Kommode im Raum liegt herausgerissen auf einer der Matratzen. Vor den Fenstern stapelt sich der Müll und die Spinnen in ihren Netzen sind erstaunlich groß. Und leider ist dieses Zimmer noch das reinlichste. Denn Klodeckel und Brille liegen zerbrochen im Badezimmer verstreut. Das kleine Fenster dort, ist großflächig mit Schimmel überzogen und überall finden sich braune und gelbe Flecken unbekannter Herkunft.
Somit ist das Schönste im ganzen Dorf die hölzerne Sitzbank Garnitur vor der heruntergekommenen Fernwander-Unterkunft. Dort halten wir uns die 1,5 Tagen auch zu 90% der Zeit auf. Den lang ersehnten Pausentag hatten wir uns ein klein wenig anders vorgestellt.
Umso erleichterter sind wir auch, als es endlich wieder weitergeht. An diesem Tag empfangen uns lichte Wälder, sanfte Almwiesen, verlassene Alpen, schmale Bergpfade und türkise Bergseen. Schnell sind das schimmlige Badezimmerfenster und die zerbrochenen Klobrillenreste vergessen. Frische Luft und schweißtreibende Aufstiege sind das beste Mittel für einen freien Kopf! Einige hundert Höhenmeter später rückt auch der namensgebende Gipfel des Nationalparks in unser Sichtfeld. Recht unspektakulär zeigt sich der über 4000 Meter hohe Gran Paradiso von unserem Standpunkt aus.
Zahme Schafe und scharfe Hütehunde
Wie so häufig, verdichten sich am Nachmittag die Quellwolken und geben uns leider keine Chance auf einen zweiten Blick. Wir passieren den malerischen Lago d’Eugio und lassen uns spontan zu einer Mittagsrast auf der Staumauer hinreißen. Nachdem wir 400 Höhenmeter später das Mittagessen schon wieder verbrannt haben, stehen wir am höchsten Punkt mitten in den Wolken. Nur das Bimmeln der Schafe hören wir entfernt aus dem Nebel näher kommen.
Als wir dem schmalen Pfad weiter folgen und um eine Bergkuppe biegen, starren uns plötzlich 300 Schafaugen verwundert an. Wir haben wahrscheinlich denselben Gesichtsausdruck. Da es außer der Wegspur keinen alternativen Weg in dem steilen Gelände gibt, bewegen wir uns langsam auf die Herde zu. Das scheint den wie aus dem Nichts auftauchenden Herdenschutzhunden aber wenig zu passen. Mit jedem Schritt auf die Tiere zu, wird ihr Bellen lauter.
5 Meter vom ersten Schaf entfernt, fangen sie zudem an ihre Zähne zu fletschen, während sie sich nun auf uns zu bewegen. Ich spüre gedanklich schon 8 Reißzähne im Oberschenkel und weiche entsprechend zurück. Augenblicklich drehen die vier Hunde ab, als wären wir überhaupt nicht mehr da. Ihre Arbeit machen sie jedenfalls sehr gut, erschweren uns aber ein wenig das weiterkommen. Als der Schäfer jedoch um die Ecke biegt und ein paar italienische Befehle in Richtung der Hunde ruft, können wir unseren Weg ins Tal nach San Lorenzo fortsetzen.
Rocciamelone Base Camp am Lago di Malciaussia
Mit jedem weiteren Tag auf der GTA nehmen nun die Höhenmeter stetig zu und die zurückgelegte Wegstrecke ab. Die drei Lanzo-Täler sind äußerst steil und ermöglichen somit nur ein sehr langsames Vorankommen. Die Bergketten rücken dort sehr nahe zusammen und sorgen für konditionell anstrengende Tage. Von Pialpetta zum ehemaligen Bergsteigerdorf Balme stehen am Vormittag 1650 Aufstiegshöhenmeter auf dem Programm. Aber wir fühlen uns fit und stehen 2:50 Stunden später auf dem zu überwindenden Sattel. Ohne Aussicht geht es hinab ins Tal, um am Folgetag auf der anderen Seite 1800 Höhenmeter wieder hinauf zusteigen.
Von Balme ist unser Ziel das Rifugio Vulpot am Lago di Malciaussia. Diese Etappe ist mit landschaftlichen Höhepunkten nur so gepflastert. Erst empfangen uns die malerischen und tatsächlich sehr grünen Laghi Verdi, die ihrem Namen alle Ehre machen. Über spannende Blockwerk- und Bergpfade wandern wir anschließend zum Passo Paschiet und weiter zum Colle di Costa Fiorita. Von oben ist beträgt die Luftlinienentfernung nach Usseglio höchstens 1,5 Kilometer. Die 1100 Höhenmeter Differenz wollen aber über wunderschöne, aber sehr steile Grasflanken abgestiegen werden.
Nach dem touristisch gut erschlossenen Usseglio legen wir die letzten Kilometer auf einer überraschend aussichtsreichen Autostraße zurück. Dort erblicken wir zum ersten Mal den 3538 Meter hohen Gipfel des Rocciamelone. Des höchsten Wallfahrtsbergs Europa, welchen wir am morgigen Tag besteigen wollen. Am Lago di Malciaussia angekommen, verwundert es mich nicht, dass hier reger Touristenverkehr herrscht. Die eindrucksvolle Bergkulisse präsentiert sich heute von ihrer schönsten Seite, vor dem im Sonnenlicht schimmernden See.
Lange sitzen wir noch am See und schauen den letzten Sonnenstrahlen des Tages zu, wie sie hinter den über 3000 Meter hohen Bergketten verschwinden. Der spitze Gipfel des Rocciamelone sieht vom Ufer des Lago unerreichbar weit entfernt aus. Von der bronzenen Madonnenstatue ist nicht ein Millimeter zu erkennen. Ich bin gespannt ob das Wetter so gut wird wie angekündigt und wie die Aussicht von der oben wohl sein wird.
Auf den höchsten Wallfahrtsberg Europas: Den Rocciamelone
Zuerst wollen dafür aber 1900 Meter im Aufstieg bewältigt werden. Mit ziemlich viel Wasser und Proviant im Gepäck. Denn unser Plan ist es, die Nacht in der kleinen Biwakschachtel am 3538 Meter hohen Gipfel zu verbringen. So ideal diese auch gelegen ist, den Wasserhahn wird man dort oben vergeblich suchen. Also müssen wir zusammen 7 Liter Wasser und eine Menge Essen bis zum Gipfel schleppen.
Nach erneut kargen Frühstück starten wir zeitig und werden beim Tritt aus der Tür von den ersten warmen Sonnenstrahlen begrüßt. Wir umrunden den klaren Bergsee und legen auf einer breiten Mulatierra die ersten Höhenmeter zurück. Trotz der sparsam abgezählten und trockenen Zwieback-Stücke fühle ich mich ausgesprochen fit. Die ersten 700 Höhenmeter vergehen wie im Fluge.
Auf der Capanna Aurelia legen wir eine erste Rast ein und schlürfen einen heißen Latte und eine kühle Cola. Panini haben sie zu meiner Enttäuschung in dieser frühen Stunde aber leider noch nicht im Angebot. Das rächt sich 30 Minuten später, als mein Magen sich laut grummelnd über mangelnde Nahrung beschwert. Ich erblick bald darauf das auf 2854 Metern gelegene Rifugio Ca d’Asti und sehe mich schon heiße Minestrone löffelnd auf der Sonnenterrasse. Bis dahin wandern wir jedoch über zahllose Kuppen und Bachläufe. Während wir das Rifugio immer im Blick haben, scheint der Weg einfach kein Ende zu nehmen.
Erst auf dem letzten Kilometer geht es steil bergauf und ich merke regelrecht, wie sich meine letzten Energiereserven verstoffwechseln. Der mühselige Aufstieg wird jedoch mit einer fantastischen Aussicht zum Monviso belohnt. Sein markanter Gipfel ist gar nicht mehr soweit entfernt! Auf der Ca d’Asti Hütte angekommen, wird erstmal gespachtelt und der Wasservorrat aufgefüllt. Eine gute Stunde lang lassen wir uns die Sonne ins Gesicht und auf die gesättigten Bäuche scheinen.
Der Aufstieg zum Rocciamelone
Zwischen uns und dem Gipfel liegen nur noch 700 Höhenmeter. Nachdem wir 1200 davon heute schon hinter uns gelassen haben, begeben wir uns überraschend motiviert auf das letzte Drittel. Meine Uhr zeigt halbzwei an. Hoffentlich sind nicht schon alle der 8 Matratzen in der Biwakschachtel belegt, denke ich mir. Es ist zwar Sonntag, aber man weiß ja nie.
Glücklicherweise scheinen deutlich mehr Wanderer ab- als aufzusteigen. Der Weg zum Gipfel ist anfangs schön breit und lässt sich hervorragend gehen. So ist es nicht verwunderlich, dass er unter den Italienern ein sehr beliebten Ausflugsziel ist. Nach dem Vorgipfel auf 3300 Metern wir der Weg schmaler und schlängelt sich als Pfad die letzten Höhenmeter über grobes Gestein empor. Die dort angebrachten Sicherungsseile scheinen aber eher für die mentale Sicherheit gedacht zu sein.
Kurz unterhalb des Gipfels blicke ich nach Westen und entdecke den winzigen Lago di Malciaussia in der Ferne. Kaum zu glauben, dass wir dort, 1900 Meter tiefer, heute morgen gestartet sind. Jetzt geht es nur noch über 2 Kehren und schon stehen wir am Fuße der kleinen Kapelle und der bronzenen Madonnenstatue. Ein wahnsinnig tolles Gefühl!
Schnell werfen ich einen Blick hinter die massive Eisentür der Biwakschachtel: Glück gehabt! Bis jetzt scheint niemand den gleichen Plan wie wir zu haben. Ich lasse meinen Rucksack auf den knorrigen alten Holzboden sacken, schlurfe erschöpft nach draußen und setze mich auf die steinere Bank vor der Kapelle. Mein Blick schweift über den Horizont im Süden, bleibt kurz am Monviso hängen, bewegt sich dann weiter nach Turin. Die italienische Metropole ist trotz ihres Dunsts in der Ferne auszumachen.
Vollkommen im Moment
Auf der anderen Seite der Kapelle präsentiert sich das höchste Panorama der Alpen. Monte Rosa, Teile des Mont Blanc, Gran Paradiso, die Dauphine im Weste sowie unzählige Gipfel und Gebirgsgruppen deren Namen ich nicht kenne, breiten sich vor mir aus. Sie ziehen mich alle in ihren Bann. Minutenlang sitze ich auf einem Felsvorsprung und versinke im Moment. Wenn man gefesselt ist von der Schönheit der Landschaft, gibt es nur das Jetzt. Keine Sorgen von Gestern oder Morgen dringen mehr vor. Das Erleben des Momentanen verdrängt alles andere. Ich kann mir kein schöneres Gefühl vorstellen.
Je tiefer die Sonne wandert, desto spannender werden die Aussichten. Die langen Schatten zaubern kontrastreiche Gemälde auf die Bergflanken. Alle Viertelstunde erlebt man eine andere Lichtstimmung. So ist es auch nicht verwunderlich, dass ich mehr als 300 Bilder in unseren 18 Stunden auf dem Gipfel schieße. Wir haben großes Glück, dass sich diesen Abend keine Wolken zwischen uns und den Sonnenuntergang schiebt. Kurz vor halb neun versinkt der große Feuerball hinter der Dauphiné.
Gegen kurz vor Drei haben wir den Gipfel erreicht. 6 Stunden später kriechen wir in unsere warmen Schlafsäcke. Den gesamten Nachmittag und Abend haben wir nichts anderes gemacht, als den Blick in alle denkbaren Richtung schweifen zu lassen. Außer vielleicht den Kamera-Akkus beim entleeren zu zusehen.
Morgenstund hat Gold im Mund
9 Stunden später schälen wir uns wieder aus unserem Schlaflager. Es dämmert bereits. Ich strecke die Nase aus der Türe und stelle fest, dass es verdammt kalt draußen ist. -5°C zeigt das Thermometer an. Das Zwiebelprinzip muss sich jetzt beweisen. In Langarmshirt, Windjacke, Daunenjacke und Hardshell verpackt, stiefel ich nach draußen.
Der Horizont im Ostern hat sich schon lila-orange verfärbt. Über ihm thront noch immer der nachtblaue Himmel. 3000 Meter tiefer sind in Susa noch fast alle Lichter aus. Die Städter scheinen um diese Uhrzeit den Schlaf einem Sonnenaufgang vorzuziehen. Aus Lila wird Rot, aus Rot wird Orange, aus Orange wird Gelb. Abwechselnd kaue auf meinem trockenen Käsebrot und schieße weiter Bilder. Etwas behindert durch die dicken Fäustlinge, ist das nicht immer ganz so einfach.
Zwei wunderbare Sonnenaufgangstunden später, packen wir unsere 7 Sachen in den Rucksack. Die ersten Trailrunner sind auch schon hier oben angekommen und schlüpfen in trockene Leibchen. Während sie ihr Frühstück essen, begeben wir uns auf den endlosen 3000 Meter Abstieg ins Susatal. Die 18 Stunden auf dem Gipfel des Rocciamelone waren definitiv eines der absoluten Highlights dieser Tour!
Soweit für den neunten Teil des Wander Berichtes unserer Alpenüberquerung von Wien bis nach Nizza. In den nächsten Tagen kommt dann der finale Bericht. Momentan befinden wir uns schon wieder in der Heimat. Am 08. September haben wir nach 107 Tagen das Mittelmeer und Nizza erreicht!!!
Möchtest Du mehr über unsere Wanderung erfahren, dann schau doch einfach auf Facebook oder Instagram vorbei. Dort werde ich auch jetzt noch alle 1-2 Tage ein paar Bilder zu der Tour hochzuladen.
Zu den anderen Artikeln dieser Alpenüberquerung:
- Etappen 1 – 6: Der Start in Wien
- Etappen 7 – 13: Erste Gewitter
- Die Sache mit dem Knöchel…
- Etappen 14 – 24: Der Salzsteigweg – Eine Hassliebe
- Etappen 25 – 32: Der Südalpenweg
- Etappen 33 – 41: Von Sexten nach Bozen – Die Dolomiten-Durchquerung
- Etappen 42 – 58: Vom Vinschgau bis ins Piemont
- Etappen 59 – 72: GTA – Von Forno bis Talosio
- Etappen 73 – 78: Rocciamelone – Der höchste Punkt der Reise
- Etappen 79 – 94: Die Ankunft in Nizza
- Alle Informationen zu der Alpenüberquerung zu Fuß
Hi Alex,
Hut ab, toller Bericht. Aber über eure Unterkunft kann man ja nur staunen. Das sowas heutzutage noch möglich ist, ist eigentlich unglaublich und äußerst frech. Umso erstaunlicher, das ihr das irgendwie ausgehalten habt. Gab es keine Möglichkeit “stornieren”?
Tolle Bilder, der Blick nach Süden auf dem Wallfahrtsberg ist echt der Hammer, das muss ein überwältigendes Gefühl gewesen sein. Grandios.
Bert
Hi Bernd,
die Möglichkeit hätte es sicherlich gegeben, aber wir brauchten diesen Pausentag leider. Und eine wirkliche Alternative gab es unglücklicherweise nicht.
Aber die Tage danach haben es jedenfalls wieder wettgemacht :)
Viele Grüße,
Alex